©Axel Lechtenbörger
Mein neuer Psychothriller GRETCHEN
AKTUELLES
Zuvor, im Jahr 2016 … Felicitas Goma betrachtet im Spiegel ihres Badezimmers die attraktive, rothaarige Frau und wirft noch einen prüfenden Blick auf die dicke Schicht Schminke, die sie künstlerisch in ihrem Gesicht aufgetragen hat. Dann rückt sie ihre Perücke zurecht. Ja, so würde sie wieder Eindruck machen können. Geheimnisvoll. Gutaussehend. Beeindruckend. Weil sie selbst geheimnisvoll ist, hat Felicitas Goma, Fachärztin der Psychiatrie, auch ein Faible für andere geheimnisvolle Menschen. Es gibt nichts Spannenderes für sie, sich in die einzelnen Persönlichkeiten hineinversetzen zu können. Einerseits kommen sie aus freien Stücken zu ihr, weil sie mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkommen. Voller Angst und Sorgen. Andererseits werden sie ihr aber auch von Rechtswegen zugewiesen, um ihre geistige Verfassung beurteilen zu müssen. Es ist faszinierend für sie, in die abstruse Gedankenwelt dieser Patienten eintauchen zu können. Entspricht das, was sie sagen, tatsächlich der Wahrheit? Ist das, was sie bewegt, nur Einbildung, oder liegt hier doch eine Geisteskrankheit vor? Es ist gar nicht so einfach, das festzustellen. Manch ein Patient bezeugt inbrünstig die Wahrheit seiner Worte. Andere wiederum sind ängstlich und kleinlaut und wollen kaum raus mit der Sprache. Aber mittlerweile erkennt sie sehr schnell, welcher Schlag Mensch ihr gegenübersitzt. So wie der Patient, der vor zwei Wochen völlig verzweifelt um einen Termin bei ihr bat. Tags darauf saß er vor ihr auf dem Ledersofa und heulte sich die Seele aus dem Leib. Sie betrachtete den Mann aufmerksam, der von kleiner Statur war und zierlich wirkte. Aber anscheinend war er sehr eitel, denn sie bemerkte, dass er ein Toupet trug. Felicitas kannte diese Gefühlsausbrüche bei ihren Patienten bereits. Sie wartete darauf, dass er sich seine übergroße, laufende Nase schnäuzen würde, was er auch kurz darauf tat. Dann berichtete er stockend und mit zitternder Stimme von seinen nächtlichen Alpträumen, die ihn seit seiner Kindheit verfolgen und plagen. Anfangs begann er noch sehr zurückhaltend, aber bei weiteren Terminen öffnete er sich mehr und mehr und bei der letzten Sitzung ließ sie sogar ihr digitales Aufnahmegerät mitlaufen. Sie unterbrach ihn nicht bei seinen Ausführungen und machte sich Notizen dazu. Sie wusste, wenn sie ihn unterbrechen würde, könnte sein Redefluss versiegen und wichtige Dinge konnten dann nicht mehr an die Oberfläche dringen. Die Chance darauf, mehr von dem Patienten erfahren zu können, wäre dann vertan. Es waren unglaubliche Alpträume, unter denen er litt. Tatsächlich war Felicitas der Meinung, eine Horrorstory von ihm erzählt zu bekommen. Als er bei seinem letzten Termin in seinen unglaublichen Ausführungen wohl eher versehentlich einen Namen nannte, stockte er plötzlich. Ihm wurde anscheinend bewusst, dass er zu weit ausgeholt und etwas ausgeplaudert hatte, was er wohl lieber im Verborgenen gelassen haben wollte. Seine zuvor traurige Mimik änderte sich schlagartig in eine abstoßende Grimasse. Er sprang mit einem Satz aus dem Sessel hoch, dass sie dachte, der leibhaftige Teufel stünde vor ihr. Sie bekam es mit der Angst zu tun, als er sie mit blutunterlaufenen Augen taxierte und mit einer so tiefen Stimme, die der vorherigen nicht mehr im Geringsten ähnelte, zuraunte: „Vergessen Sie mich! Haben Sie mich verstanden? VERGESSEN SIE MICH!“ Um daraufhin nach dem auf dem Schreibtisch stehenden Aufnahmegerät zu greifen und fluchtartig das Büro zu verlassen. Felicitas erinnert sich noch daran, dass sie von dieser Situation völlig überrumpelt wurde. Es rieselt ihr immer noch ein eiskalter Schauer den Rücken herab, wenn sie daran denkt. Nein, er musste sich nicht schminken, um sich zu verändern, er veränderte sein Bewusstsein in verschiedene Persönlichkeiten, wobei seine Gesichtszüge sich den jeweiligen Personen anglichen. Felicitas erkannte an ihm multiple paranoide Anzeichen. Sie hatte sich noch kein vollständiges Bild von ihm machen können, ist aber zu dem Schluss gekommen, dass er als Kind psychisch und körperlich missbraucht worden sein musste. Sie recherchierte den genannten Namen ihres Patienten und fand ihn im Zusammenhang in einem Mordfall, der vor vier Jahren geschah. Dabei handelte es sich um einen Psychologen, der im Jahre 2012 bestialisch umgebracht wurde. Sie benötigt das Aufnahmegerät nicht, um sich an dessen Worte erinnern zu können und es gab bei dem Mord Übereinstimmungen mit dem Bericht ihres Patienten. Sie hatte sich bereits überlegt, ob sie wegen seiner multiplen Bewusstseinsstörungen anonym die Polizei verständigen sollte, denn für sie ist er eine tickende Zeitbombe. Aber sie wollte vorher noch einmal mit ihm sprechen, obwohl er ihr gefährlich vorkam. Vielleicht würde sie ihn dazu überreden können, sich in eine Psychiatrie einweisen zu lassen, damit seine Krankheit behandelt werden könnte. Aber nicht jetzt! geht es ihr durch den Kopf. Es ist Wochenende und jetzt habe ich erst einmal Spaß. Da muss ich mich nicht mit meinen Verrückten beschäftigen, sonst werde ich nachher selbst noch verrückt. Sie betrachtet ihr Werk im Spiegel ihres Badezimmers. Sie ist zufrieden mit sich. Jeder hat eine dunkle Seite. Aber ihre dunkle Seite tut niemandem weh. Ganz im Gegenteil. Sie spürt die Wärme und die Begierde ihrer Vulva. Heute wird sie wieder voll auf ihre Kosten kommen. Das hat sie im Gespür. Sie bugsiert ihren roten Audi R8 Spyder aus der Garage. Ein paar Straßenzüge vor dem Club lenkt sie ihr Auto auf den Parkplatz eines Hotels, in dem sie bereits ein Zimmer für die Nacht reserviert hat. Sie blickt in den Rückspiegel und zieht gewohnheitsmäßig den knallroten Lippenstift nach. Elegant steigt sie mit ihren nicht enden wollenden Beinen aus ihrem Auto und schließt den Reißverschluss ihres roten Lackledermantels. Die Stilettos, die perfekt mit ihrem Outfit harmonieren, hallen im Hof des Hotels von den Wänden wider. Sie fühlt sich wie ein erotisches Kunstwerk. Wie geschaffen für das heutige Abenteuer. Vergessen ist die Moral, die sie dazu zwingt, ein sittsamer Mensch zu sein. Der Türsteher nickt ihr freundlich zu, als sie ihm einige Banknoten in die Hand drückt. Galant öffnet er ihr die Tür. Ihren Mantel lässt sie bei der Garderobenfrau. Sie wirft noch einen allerletzten Blick in die verspiegelte Wand, in der ihr eine hübsche Frau mit roten Haaren gegenübersteht, die ein tief dekolletiertes Oberteil und einen Lackledermini trägt. Sie lächelt und wirft ihr einen koketten Handkuss zu. In ihrem Magen tanzen tausend Schmetterlinge herum, als sie den schweren Samtvorhang zur Seite schiebt und in den verschachtelten Raum hineingleitet. Aus den Lautsprechern der Separees empfängt sie gedämpfte Musik. Sie schwebt zum Tresen hinüber und spürt die begehrlichen Blicke der anwesenden Männer auf ihrem Körper liegen. Wie sie diesen Auftritt genießt und diese ausziehenden Blicke ein behagliches Kribbeln in ihrem Unterleib auslöst. Wohlige Wärme breitet sich dort aus. „Dasselbe wie immer?“, fragt der Barkeeper sie freundlich. Sie lächelt zurück und nickt. Sie erkennt auf den ersten, schweifenden Blick, dass sie nicht lange allein sein wird. Ein hellblaues, blitzendes Augenpaar liegt unverhohlen auf ihr. Der dazugehörige, in einem Sakko steckende Körper, ist braungebrannt, zumindest der Teil, den sie erkennen kann. Schwarze, lange Haare umhüllen sein schmales Gesicht. Sie schätzt ihn auf etwa Ende zwanzig. Genau der Typ, der in ihr Beuteschema passt. Er wirft ihr ein Lächeln zu, bei dem eine Reihe weißer Zähne aufblitzt. Er hebt sein Glas an und prostet ihr freundlich zu. Sie schlägt die Augen gespielt verlegen nieder und nimmt auf einen der Hocker Platz. Ja, das kann sie. Das wirkt auf die Männer, damit war sie stets erfolgreich. Sie stehen auf Eroberungen. Je naiver sie ihnen gegenüber tat, desto begehrlicher würde sie auf sie wirken. Er löst sich vom Tresen und schlendert, ohne seinen lächelnden Blick von ihr zu nehmen, auf sie zu. Der lässt nichts anbrennen, freut sie sich. Ihr Rock ist hochgerutscht und bedeckt kaum noch ihre Oberschenkel. Sie gewährt ihm einen tiefen Einblick. Soll er nur sehen, dass sie nichts darunter trägt. Seine volle Aufmerksamkeit liegt nun zwischen ihren Schenkeln. Ein wohliger Schauer durchströmt ihre Lenden. Sie spürt, wie ihre Vulva pulsiert. Von Erregung berauscht schlägt sie ihre Beine wieder übereinander. Kurz bevor er bei ihr ist, wendet sie ihm den Rücken zu. Sie spürt ihn, als er sich von hinten an sie presst. „Gefällt dir, was du gesehen hast?“, raunt sie. Sie legt ihren Kopf in den Nacken. Aus den Augenwinkeln heraus erkennt sie, wie seine feuchte Zunge erregt über seine Lippen fährt. „Ja“, haucht seine Stimme dicht an ihrem Ohr „du machst mich total an.“ Sie spürt deutlich seine aufgerichtete Männlichkeit an ihrer Hüfte. Sie nippt kurz an ihrem Cocktail. „Dann lass uns gehen.“ Gegen drei Uhr morgens, nachdem sie ihn aus ihrem Hotelzimmer komplimentiert hat, erreicht sie erschöpft, aber vollauf befriedigt ihr Fahrzeug. So einen heißblütigen Burschen hatte sie bisher noch nicht oft unter ihren Auserwählten gehabt. Ein anheimelndes Wärmegefühl durchläuft ihre Scham, als sie an die vergangenen Stunden zurückdenkt. Sie muss sich aus ihren wohligen Gedanken reißen und startet den V 10-Motor. Die 525 PS-Maschine des Spyders wummert auf. Sie stößt rückwärts aus der Parklücke, aber ein ungewöhnliches Geräusch lässt sie anhalten. Genervt steigt sie wieder aus. Irgendetwas stimmt nicht mit ihrem Auto. Sie umrundet es und erkennt mit Schrecken, dass beide vorderen Reifen platt sind. Das hat ihr gerade noch gefehlt. Ganz in der Nähe startet ein Motor und kurz darauf hält ein Taxi neben ihr. „Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“, ruft der Mann mit der ins Gesicht gezogenen Baseballkappe ihr aus dem geöffneten Fenster zu. Lange, fettige Haare lugen darunter hervor und verschleiern sein hageres Gesicht. Felicitas meint diesen Typ zu kennen. „Meine Vorderreifen sind platt“, erwidert sie nachdenklich. „So ein Pech aber auch. Kann ich Sie vielleicht irgendwohin fahren?“ „Nein danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich wohne ganz in der Nähe. Außerdem muss ich mich noch um mein Auto kümmern.“ Sie deutet auf ihr querstehendes Fahrzeug, dass die Fahrspur versperrt. Der Mann macht ihr Angst. „Warten Sie, ich mach das schon.“ Der schmächtige Taxifahrer steigt aus, setzt sich in den Spyder und fährt das Auto langsam zurück in die Parklücke. „Wau,“ meint er anerkennend, nachdem er wieder ausgestiegen ist und ihr den Schlüssel überreicht, „das ist ja ein Granatenauto. Wenn Sie möchten, könnte ich mich morgen um die Reifen kümmern.“ Woher kenne ich diese Stimme nur? fragt sie sich. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich mach das schon. Vielen Dank“, erwidert sie unbehaglich. „Wie Sie wollen.“ Er zuckt mit den Schultern, steigt in sein Fahrzeug und braust davon. Ihre sexuelle Ekstase ist jetzt wie fortgespült. Zwei platte Reifen. Wenn es nur einer gewesen wäre, aber gleich beide auf einmal? Die Nacht ist kühl. Felicitas fröstelt es unter dem leichten, kaum wärmenden Ledermantel. Die Straßenlaternen geben nur ein fahles Licht ab. Wenn sie unter ihnen hindurchläuft, beobachtet sie das Spiel ihres Schattens, der jedes Mal, wenn sie ein Licht passiert, unter ihr hindurchtaucht, länger und länger wird, bis die nächste Lampe den voraushuschenden Schemen wieder verblassen lässt. Es sind nur noch ein paar Minuten bis zu ihrem Haus. Es ist still um sie. Ungewöhnlich still. Mittlerweile ist es bereits vier Uhr geworden. Sie hat die Strecke unterschätzt. Es ist doch weiter, als sie es sich vorgestellt hatte. Vielleicht hätte sie sich doch besser nach Hause fahren lassen sollen. In einer Gasse bleibt sie stehen, zieht sich die rote Perücke vom Kopf, verstaut sie in ihrer Handtasche und richtet anschließend ihre kurze Ponyfrisur. Irgendwo hinter sich hört Felicitas das Klacken harter Schuhsohlen, vermutlich die Lackschuhe eines Mädchens. Die Geräusche verstummen abrupt. Ein Kind kichert. Felicitas wendet sich um, aber hinter ihr ist niemand zu sehen. Merkwürdig. Möglicherweise kamen die Geräusche aus dem Lautsprecher eines laufenden Fernsehers. Sie blickt zu den geöffneten Fenstern hinüber und schreckt zusammen, als einer der Fensterflügel zuschlägt. Beruhigt geht sie weiter und ein paar Minuten später ist sie zu Hause angekommen. Sie öffnet die Tür und kickt, ohne Licht zu machen, ihre unbequemen Stilettos in die Ecke. Dann hängt sie im Flur ihren Mantel an den Garderobenhaken und stellt, nach dem sie die indirekte Beleuchtung in der Küche eingeschaltet hat, ihre Handtasche auf dem Tisch ab. Mit einem Glas Rotwein bewaffnet bemerkt sie, dass die Haustür noch einen Spalt weit offensteht. Sie wird sie wohl nicht richtig zugezogen haben, denkt sie gedankenverloren. Sie schließt sie ab und summt auf dem Weg zum Wohnzimmer beschwingt einen Song, der im Musiksender des Hotelzimmers gespielt wurde und ihre Hüften in ekstatische Schwingungen versetzte, als er in sie eindrang. Sie spürt, wie sie bei dieser Vorstellung wieder feucht wird. Ein Kind kichert. Felicitas erstarrt im Rahmen der Tür. Das Glas fällt ihr aus der Hand. Es klirrt und der blutrote Wein verteilt sich zwischen ihren nackten Zehen. Das Kichern verstummt. Sie stiert in das dunkle Wohnzimmer. Rechts wähnt sie den Lichtschalter. Es überläuft sie eiskalt. Unwillkürlich muss sie an das Kichern und die klackenden Sohlen in der Gasse zurückdenken. Ihre schweißnassen Finger tasten zum Lichtschalter. Sie zögert, denn sie hat schreckliche Angst davor, etwas zu sehen, was sie nicht sehen möchte. Sie betätigt den Schalter und das Licht der Stehlampe in der Ecke glimmt auf. Niemand da. Leide ich schon unter Halluzinationen? Sie versucht einen klaren Kopf zu bewahren. Ein klackendes Geräusch in ihrem Rücken lässt sie herumfahren. Eine kleine Gestalt hat sich vor ihr aufgebaut. Die rote Farbe ihrer Lackschuhe stechen ihr direkt ins Auge. Felicitas starrt auf den missgestalteten, aufgerissenen Mund, aus dem kein Laut dringt. Die Fratze ist abstoßend, aber gleichzeitig auch merkwürdig anziehend. Sie ist so fasziniert, dass sie die Axt nicht bemerkt. Zu spät erfasst ihr Unterbewusstsein, dass die Klinge auf sie zu saust. NEIN! schreit es in ihr. Was geht hier ab? Es ist die letzte Frage in ihrem Leben, die sie sich stellen kann.
Mein neuer Psychothriller GRETCHEN
AKTUELLES
©Axel Lechtenbörger
Zuvor,  im Jahr 2016 … Felicitas Goma betrachtet im Spiegel ihres Badezimmers die attraktive, rothaarige Frau und wirft noch  einen prüfenden Blick auf die dicke Schicht Schminke, die sie künstlerisch in ihrem Gesicht aufgetragen  hat. Dann rückt sie ihre Perücke zurecht. Ja, so würde sie wieder Eindruck machen können. Geheimnisvoll. Gutaussehend. Beeindruckend. Weil sie selbst geheimnisvoll ist, hat Felicitas Goma, Fachärztin der Psychiatrie, auch ein Faible für  andere geheimnisvolle Menschen. Es gibt nichts Spannenderes für sie, sich in die einzelnen  Persönlichkeiten hineinversetzen zu können. Einerseits kommen sie aus freien Stücken zu ihr, weil sie mit  ihrem Leben nicht mehr zurechtkommen. Voller Angst und Sorgen. Andererseits werden sie ihr aber  auch von Rechtswegen zugewiesen, um ihre geistige Verfassung beurteilen zu müssen. Es ist faszinierend  für sie, in die abstruse Gedankenwelt dieser Patienten eintauchen zu können. Entspricht das, was sie  sagen, tatsächlich der Wahrheit? Ist das, was sie bewegt, nur Einbildung, oder liegt hier doch eine  Geisteskrankheit vor? Es ist gar nicht so einfach, das festzustellen. Manch ein Patient bezeugt inbrünstig  die Wahrheit seiner Worte. Andere wiederum sind ängstlich und kleinlaut und wollen kaum raus mit der  Sprache. Aber mittlerweile erkennt sie sehr schnell, welcher Schlag Mensch ihr gegenübersitzt. So wie der Patient,  der vor zwei Wochen völlig verzweifelt um einen Termin bei ihr bat. Tags darauf saß er vor ihr auf dem  Ledersofa und heulte sich die Seele aus dem Leib.  Sie betrachtete den Mann aufmerksam, der von kleiner Statur war und zierlich wirkte. Aber anscheinend  war er sehr eitel, denn sie bemerkte, dass er ein Toupet trug. Felicitas kannte diese Gefühlsausbrüche bei ihren Patienten bereits. Sie wartete darauf, dass er sich  seine übergroße, laufende Nase schnäuzen würde, was er auch kurz darauf tat. Dann berichtete er  stockend und mit zitternder Stimme von seinen nächtlichen Alpträumen, die ihn seit seiner Kindheit  verfolgen und plagen.  Anfangs begann er noch sehr zurückhaltend, aber bei weiteren Terminen öffnete er sich mehr und mehr  und bei der letzten Sitzung ließ sie sogar ihr digitales Aufnahmegerät mitlaufen. Sie unterbrach ihn nicht  bei seinen Ausführungen und machte sich Notizen dazu. Sie wusste, wenn sie ihn unterbrechen würde,  könnte sein Redefluss versiegen und wichtige Dinge konnten dann nicht mehr an die Oberfläche dringen.  Die Chance darauf, mehr von dem Patienten erfahren zu können, wäre dann vertan. Es waren unglaubliche Alpträume, unter denen er litt. Tatsächlich war Felicitas der Meinung, eine  Horrorstory von ihm erzählt zu bekommen. Als er bei seinem letzten Termin in seinen unglaublichen  Ausführungen wohl eher versehentlich einen Namen nannte, stockte er plötzlich. Ihm wurde  anscheinend bewusst, dass er zu weit ausgeholt und etwas ausgeplaudert hatte, was er wohl lieber im  Verborgenen gelassen haben wollte. Seine zuvor traurige Mimik änderte sich schlagartig in eine  abstoßende Grimasse. Er sprang mit einem Satz aus dem Sessel hoch, dass sie dachte, der leibhaftige  Teufel stünde vor ihr. Sie bekam es mit der Angst zu tun, als er sie mit blutunterlaufenen Augen taxierte  und mit einer so tiefen Stimme, die der vorherigen nicht mehr im Geringsten ähnelte, zuraunte:  „Vergessen Sie mich! Haben Sie mich verstanden? VERGESSEN SIE MICH!“ Um daraufhin nach dem auf  dem Schreibtisch stehenden Aufnahmegerät zu greifen und fluchtartig das Büro zu verlassen.  Felicitas erinnert sich noch daran, dass sie von dieser Situation völlig überrumpelt wurde. Es rieselt ihr  immer noch ein eiskalter Schauer den Rücken herab, wenn sie daran denkt. Nein, er musste sich nicht schminken, um sich zu verändern, er veränderte sein Bewusstsein in  verschiedene Persönlichkeiten, wobei seine Gesichtszüge sich den jeweiligen Personen anglichen. Felicitas erkannte an ihm multiple paranoide Anzeichen. Sie hatte sich noch kein vollständiges Bild von  ihm machen können, ist aber zu dem Schluss gekommen, dass er als Kind psychisch und körperlich  missbraucht worden sein musste.  Sie recherchierte den genannten Namen ihres Patienten und fand ihn im Zusammenhang in einem  Mordfall, der vor vier Jahren geschah. Dabei handelte es sich um einen Psychologen, der im Jahre 2012  bestialisch umgebracht wurde. Sie benötigt das Aufnahmegerät nicht, um sich an dessen Worte erinnern  zu können und es gab bei dem Mord Übereinstimmungen mit dem Bericht ihres Patienten. Sie hatte sich  bereits überlegt, ob sie wegen seiner multiplen Bewusstseinsstörungen anonym die Polizei verständigen  sollte, denn für sie ist er eine tickende Zeitbombe. Aber sie wollte vorher noch einmal mit ihm sprechen,  obwohl er ihr gefährlich vorkam. Vielleicht würde sie ihn dazu überreden können, sich in eine Psychiatrie  einweisen zu lassen, damit seine Krankheit behandelt werden könnte. Aber nicht jetzt!  geht es ihr durch den Kopf. Es ist Wochenende  und jetzt habe ich erst einmal Spaß. Da muss ich mich nicht mit meinen Verrückten beschäftigen, sonst  werde ich nachher selbst noch verrückt. Sie betrachtet ihr Werk im Spiegel ihres Badezimmers. Sie ist zufrieden mit sich.  Jeder hat eine dunkle Seite. Aber ihre dunkle Seite tut niemandem weh. Ganz im Gegenteil. Sie spürt die  Wärme und die Begierde ihrer Vulva. Heute wird sie wieder voll auf ihre Kosten kommen. Das hat sie im  Gespür. Sie bugsiert ihren roten Audi R8 Spyder aus der Garage. Ein paar Straßenzüge vor dem Club lenkt sie ihr Auto auf den Parkplatz eines Hotels, in dem sie bereits  ein Zimmer für die Nacht reserviert hat. Sie blickt in den Rückspiegel und zieht gewohnheitsmäßig den  knallroten Lippenstift nach. Elegant steigt sie mit ihren nicht enden wollenden Beinen aus ihrem Auto  und schließt den Reißverschluss ihres roten Lackledermantels. Die Stilettos, die perfekt mit ihrem Outfit  harmonieren, hallen im Hof des Hotels von den Wänden wider. Sie fühlt sich wie ein erotisches Kunstwerk. Wie geschaffen für das heutige Abenteuer. Vergessen ist die  Moral, die sie dazu zwingt, ein sittsamer Mensch zu sein.  Der Türsteher nickt ihr freundlich zu, als sie ihm einige Banknoten in die Hand drückt. Galant öffnet er ihr  die Tür. Ihren Mantel lässt sie bei der Garderobenfrau. Sie wirft noch einen allerletzten Blick in die  verspiegelte Wand, in der ihr eine hübsche Frau mit roten Haaren gegenübersteht, die ein tief  dekolletiertes Oberteil und einen Lackledermini trägt. Sie lächelt und wirft ihr einen koketten Handkuss  zu. In ihrem Magen tanzen tausend Schmetterlinge herum, als sie den schweren Samtvorhang zur Seite  schiebt und in den verschachtelten Raum hineingleitet.  Aus den Lautsprechern der Separees empfängt sie gedämpfte Musik. Sie schwebt zum Tresen hinüber  und spürt die begehrlichen Blicke der anwesenden Männer auf ihrem Körper liegen. Wie sie diesen Auftritt genießt und diese ausziehenden Blicke ein behagliches Kribbeln in ihrem  Unterleib auslöst. Wohlige Wärme breitet sich dort aus. „Dasselbe wie immer?“, fragt der Barkeeper sie freundlich. Sie lächelt zurück und nickt.  Sie erkennt auf den ersten, schweifenden Blick, dass sie nicht lange allein sein wird. Ein hellblaues,  blitzendes Augenpaar liegt unverhohlen auf ihr. Der dazugehörige, in einem Sakko steckende Körper, ist  braungebrannt, zumindest der Teil, den sie erkennen kann. Schwarze, lange Haare umhüllen sein  schmales Gesicht. Sie schätzt ihn auf etwa Ende zwanzig. Genau der Typ, der in ihr Beuteschema passt. Er  wirft ihr ein Lächeln zu, bei dem eine Reihe weißer Zähne aufblitzt. Er hebt sein Glas an und prostet ihr freundlich zu. Sie schlägt die Augen gespielt verlegen nieder und  nimmt auf einen der Hocker Platz.  Ja, das kann sie. Das wirkt auf die Männer, damit war sie stets erfolgreich. Sie stehen auf Eroberungen. Je  naiver sie ihnen gegenüber tat, desto begehrlicher würde sie auf sie wirken.  Er löst sich vom Tresen und schlendert, ohne seinen lächelnden Blick von ihr zu nehmen, auf sie zu.  Der lässt nichts anbrennen, freut sie sich. Ihr Rock ist hochgerutscht und bedeckt kaum noch ihre  Oberschenkel. Sie gewährt ihm einen tiefen Einblick.  Soll er nur sehen, dass sie nichts darunter trägt. Seine volle Aufmerksamkeit liegt nun zwischen ihren  Schenkeln. Ein wohliger Schauer durchströmt ihre Lenden. Sie spürt, wie ihre Vulva pulsiert. Von  Erregung berauscht schlägt sie ihre Beine wieder übereinander. Kurz bevor er bei ihr ist, wendet sie ihm  den Rücken zu. Sie spürt ihn, als er sich von hinten an sie presst. „Gefällt dir, was du gesehen hast?“, raunt sie. Sie legt ihren Kopf in den Nacken. Aus den Augenwinkeln heraus erkennt sie, wie seine feuchte Zunge  erregt über seine Lippen fährt. „Ja“, haucht seine Stimme dicht an ihrem Ohr „du machst mich total an.“ Sie spürt deutlich seine  aufgerichtete Männlichkeit an ihrer Hüfte. Sie nippt kurz an ihrem Cocktail. „Dann lass uns gehen.“ Gegen drei Uhr morgens, nachdem sie ihn aus ihrem Hotelzimmer komplimentiert hat, erreicht sie  erschöpft, aber vollauf befriedigt ihr Fahrzeug. So einen heißblütigen Burschen hatte sie bisher noch  nicht oft unter ihren Auserwählten gehabt. Ein anheimelndes Wärmegefühl durchläuft ihre Scham, als sie  an die vergangenen Stunden zurückdenkt.  Sie muss sich aus ihren wohligen Gedanken reißen und startet den V 10-Motor. Die 525 PS-Maschine des  Spyders wummert auf. Sie stößt rückwärts aus der Parklücke, aber ein ungewöhnliches Geräusch lässt sie  anhalten. Genervt steigt sie wieder aus. Irgendetwas stimmt nicht mit ihrem Auto. Sie umrundet es und  erkennt mit Schrecken, dass beide vorderen Reifen platt sind.  Das hat ihr gerade noch gefehlt.  Ganz in der Nähe startet ein Motor und kurz darauf hält ein Taxi neben ihr. „Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“, ruft der Mann mit der ins Gesicht gezogenen Baseballkappe ihr aus  dem geöffneten Fenster zu. Lange, fettige Haare lugen darunter hervor und verschleiern sein hageres  Gesicht. Felicitas meint diesen Typ zu kennen. „Meine Vorderreifen sind platt“, erwidert sie nachdenklich. „So ein Pech aber auch. Kann ich Sie vielleicht irgendwohin fahren?“ „Nein danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich wohne ganz in der Nähe. Außerdem muss ich  mich noch um mein Auto kümmern.“ Sie deutet auf ihr querstehendes Fahrzeug, dass die Fahrspur  versperrt. Der Mann macht ihr Angst. „Warten Sie, ich mach das schon.“ Der schmächtige Taxifahrer steigt aus, setzt sich in den Spyder und fährt das Auto langsam zurück in die  Parklücke. „Wau,“ meint er anerkennend, nachdem er wieder ausgestiegen ist und ihr den Schlüssel überreicht,  „das ist ja ein Granatenauto. Wenn Sie möchten, könnte ich mich morgen um die Reifen kümmern.“ Woher kenne ich diese Stimme nur? fragt sie sich.  „Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich mach das schon. Vielen Dank“, erwidert sie unbehaglich. „Wie Sie wollen.“ Er zuckt mit den Schultern, steigt in sein Fahrzeug und braust davon. Ihre sexuelle Ekstase ist jetzt wie fortgespült. Zwei platte Reifen. Wenn es nur einer gewesen wäre, aber gleich beide auf einmal?  Die Nacht ist kühl. Felicitas fröstelt es unter dem leichten, kaum wärmenden Ledermantel. Die  Straßenlaternen geben nur ein fahles Licht ab. Wenn sie unter ihnen hindurchläuft, beobachtet sie das  Spiel ihres Schattens, der jedes Mal, wenn sie ein Licht passiert, unter ihr hindurchtaucht, länger und  länger wird, bis die nächste Lampe den voraushuschenden Schemen wieder verblassen lässt. Es sind nur noch ein paar Minuten bis zu ihrem Haus.  Es ist still um sie. Ungewöhnlich still.  Mittlerweile ist es bereits vier Uhr geworden. Sie hat die Strecke unterschätzt. Es ist doch weiter, als sie  es sich vorgestellt hatte. Vielleicht hätte sie sich doch besser nach Hause fahren lassen sollen. In einer Gasse bleibt sie stehen, zieht sich die rote Perücke vom Kopf, verstaut sie in ihrer Handtasche  und richtet anschließend ihre kurze Ponyfrisur.  Irgendwo hinter sich hört Felicitas das Klacken harter Schuhsohlen, vermutlich die Lackschuhe eines  Mädchens.  Die Geräusche verstummen abrupt. Ein Kind kichert. Felicitas wendet sich um, aber hinter ihr ist niemand zu sehen.  Merkwürdig. Möglicherweise kamen die Geräusche aus dem Lautsprecher eines laufenden Fernsehers.  Sie blickt zu den geöffneten Fenstern hinüber und schreckt zusammen, als einer der Fensterflügel  zuschlägt.  Beruhigt geht sie weiter und ein paar Minuten später ist sie zu Hause angekommen.  Sie öffnet die Tür und kickt, ohne Licht zu machen, ihre unbequemen Stilettos in die Ecke. Dann hängt sie  im Flur ihren Mantel an den Garderobenhaken und stellt, nach dem sie die indirekte Beleuchtung in der  Küche eingeschaltet hat, ihre Handtasche auf dem Tisch ab. Mit einem Glas Rotwein bewaffnet bemerkt  sie, dass die Haustür noch einen Spalt weit offensteht. Sie wird sie wohl nicht richtig zugezogen haben,  denkt sie gedankenverloren. Sie schließt sie ab und summt auf dem Weg zum Wohnzimmer beschwingt  einen Song, der im Musiksender des Hotelzimmers gespielt wurde und ihre Hüften in ekstatische  Schwingungen versetzte, als er in sie eindrang.  Sie spürt, wie sie bei dieser Vorstellung wieder feucht wird. Ein Kind kichert. Felicitas erstarrt im Rahmen der Tür. Das Glas fällt ihr aus der Hand. Es klirrt und der blutrote Wein  verteilt sich zwischen ihren nackten Zehen.  Das Kichern verstummt. Sie stiert in das dunkle Wohnzimmer. Rechts wähnt sie den Lichtschalter.  Es überläuft sie eiskalt. Unwillkürlich muss sie an das Kichern und die klackenden Sohlen in der Gasse  zurückdenken. Ihre schweißnassen Finger tasten zum Lichtschalter. Sie zögert, denn sie hat schreckliche Angst davor,  etwas zu sehen, was sie nicht sehen möchte. Sie betätigt den Schalter und das Licht der Stehlampe in der Ecke glimmt auf.  Niemand da.  Leide ich schon unter Halluzinationen? Sie versucht einen klaren Kopf zu bewahren. Ein klackendes Geräusch in ihrem Rücken lässt sie herumfahren. Eine kleine Gestalt hat sich vor ihr aufgebaut. Die rote Farbe ihrer Lackschuhe stechen ihr direkt ins  Auge. Felicitas starrt auf den missgestalteten, aufgerissenen Mund, aus dem kein Laut dringt. Die Fratze ist abstoßend, aber gleichzeitig auch merkwürdig anziehend. Sie ist so fasziniert, dass sie die Axt nicht bemerkt. Zu spät erfasst ihr Unterbewusstsein, dass die Klinge auf sie zu saust. NEIN! schreit es in ihr.  Was geht hier ab? Es ist die letzte Frage in ihrem Leben, die sie sich stellen kann.